American Splendor (USA 2003, Regie: Berman / Pulcini,
Buch: Harvey Pekar u. a., mit Paul Giamatti)

Manchmal kann alles ganz einfach sein. In einer Zeit, in der spektakuläre Kinoplots den Zuschauer nicht mehr unbedingt vom Hocker reißen, weil sie sich alle irgendwie zu wiederholen scheinen, rückt wieder etwas Spannenderes nach vorne: Der Mensch selbst.

Der Mensch in „American Splendor“ heißt Harvey Pekar, und es gibt ihn wirklich. Harvey Pekar zelebriert in all seiner Ungewöhnlichkeit das Gewöhnliche. Er ist Aktensortierer im örtlichen Krankenhaus von Cleveland. Das ist nicht aufregend.

Als Ausgleich sammelt Harvey Jazzplatten und Comics; seine Wohnung sieht ein bisschen so aus wie das Lager eines Entrümpelungsservices. Das ist kein Ort der Zuflucht für Frauen, die es dementsprechend nicht besonders lange bei Harvey aushalten. Sogar, wenn sie ihn geheiratet haben.

Manchmal aber passieren Zufälle im Leben. Harvey trifft auf einem Flohmarkt, wo sonst, einen netten jungen Zeichner. Einen Menschen, der mit ihm die gleiche Wellenlinie hat. Harvey erzählt dem Zeichner von seiner Idee, Comics über das normale Leben zu schreiben statt über Superhelden – darüber, wie einem der Fahrradschlüssel in den Gully fällt, oder wie man mit seiner Freundin über das Spülen von Geschirr diskutiert.

Zeichnen kann Harvey nicht, wie seine Versuche definitiv beweisen. Aber Harvey hat die Ideen und die Texte. 1976 veröffentlicht er zusammen mit dem Zeichner vom Flohmarkt die erste Ausgabe seines Comics, „American Splendor“ – ein Comic, der unspektakuläre Szenen aus seinem eigenen Leben erzählt. Der Name des Zeichners wird bald in aller Munde sein: Es ist Robert Crumb, heute eine Legende der Comicwelt (z. B. „Fritz the Cat“). Auch Harvey erlangt Kultstatus, seine Comicreihe wird Dauerläufer und berichtet bis heute aus seinem „normalen“ Leben, mit wechselnden Zeichnern. Durch seine Werke wird Harvey sogar endlich die Frau finden, die perfekt zu ihm passt. Er wird in Talkshows eingeladen werden. Und schließlich wird sogar ein Spielfilm über sein Leben produziert - dieser hier.

Die ganzen Ereignisse ändern aber nichts Grundlegendes. Harvey Pekar bleibt so, wie er ist: Ein unverfälschter, ehrlicher Charakter, der sich vom gesellschaftlichen Erfolg nicht beirren lässt, sondern einfach weiter sein Leben lebt. Der weiter seine Akten sortiert und mit den Arbeitskollegen über Gummidrops diskutiert.

„American Splendor“ ist Film, der das Gefühl unglaublicher Authentizität verbreitet. Das ist erstaunlich, weil er ein abgeleitetes Werk ist – zum Großteil die Verfilmung mehrerer Comics. Die Filmautoren haben es klug angestellt: sie benutzen die Herkunft ihrer Geschichte als Stilmittel, indem sie Sequenzen immer wieder mit Comictexten einleiten. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit keineswegs; der Film schafft es vielmehr, eine zuvor noch nie gesehene Symbiose aus Spielfilm, Comic, Dokumentation und Biographie herzustellen. Insoweit betritt „American Splendor“ filmisches Neuland – Neuland, das vermutlich nicht allzu oft wieder betreten wird. Weil die Konstellation, dass der Comic einfach nur das „normale“ Leben des Comiczeichners erzählt, ziemlich einzigartig ist.

Spannender umso mehr: Die Verquickung der Kunstformen Film, Comic und Biographie, die im Verlauf dann sogar den realen Harvey Pekar in die Erzählung mit einbezieht – als Gegenstück und Ergänzung zu dem Filmcharakter Harvey Pekar – funktioniert, ohne dass man groß darüber nachdenken muss. Eine inszenatorische Leistung, die man nicht hoch genug würdigen kann. Trotz der ungewöhnlichen Erzählebenen fiebert man mit Harvey Pekar, seinem Leben, seinem Schicksal. Groß sind die Momente, wo man ihn dokumentarisch sehen darf – als ungehobelten Letterman-Talkgast oder als alten Mann, der die Herstellung des Films selbst reflektiert. Hier wird deutlich, wie dicht der Film an der realen Figur des Harvey Pekar dran ist.

So wird „American Splendor“ zum Meilenstein des amerikanischen Kinos, zum Gegenentwurf zur Bruckheimer-Welt. Selten ist es gelungen, die Normalität derartig spannend darzustellen – und derartig glaubwürdig. Dies ist auch Kameraführung und Produktionsdesign (Thérèse DePrez, die sich auch für „High Fidelity“, „Happiness“ und „Living in Oblivion“ verantwortlich zeigte) zu verdanken. „American Splendor“ wurde für den Oscar nominiert, gewann den Großen Preis des bedeutendsten US-amerikanischen Filmfestivals Sundance und den Kritikerpreis in Cannes.

„American Splendor“ erzählt uns von Menschen, die wir nicht vergessen werden. Menschen, deren Lebenseinstellungen unser eigenes Leben bereichern werden. Und das ist es, neben allen sonstigen Vorzügen, was den Film so bedeutsam macht.

Fazit: Der Mensch präzise beobachtet - köstlich! * * * * *


Eine Filmkritik von Stephan Brüggenthies (www.brueggenthies.org)

Ursprünglich veröffentlicht im Kölner Stadt-Anzeiger.

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